Samstag, 6. April 2013

Mut zum Leben


Schon früh habe ich gespürt, dass ich nicht so bin wie andere. Aber was hat mich von den anderen unterschieden?
Niemand hatte wirklich etwas an mir auszusetzen, zumindest hat man es mir nie direkt gesagt. Ich war ja auch nicht auffällig, wie man es sich vielleicht vorstellt. Meinen Kummer und meine Sorgen hab ich in mir reingefressen. Mit wem sollte ich denn auch darüber reden und über was genau sollte ich reden? Ich wusste doch selbst nicht, warum ich etwas anders ticke. Wem sollte es denn auch auffallen, das ich mich immer und überall fremd fühle, von Ängsten umgeben war? In unserer Familie bzw. Verwandtschaft und auch im Freundeskreis meiner Eltern waren überall nur Jungs. Ich wurde überall nur als das kleine schüchternde Mädchen angesehen. Meine ein Jahr jüngere Cousine war ein quicklebendiges immer fröhliches und wildes Mädchen. Da sagte man schon sehr früh, an ihr wäre wohl ein Junge vorbeigegangen. Aber bei mir? Nein, da kam nichts. Ich war scheinbar das Bilderbuch-Mädchen: immer lieb, ruhig, zurückgezogen. Als ich etwas älter war, so im Teenageralter, kamen dann schon hin und wieder mal Sprüche wie z.B. „Schau mal etwas freundlicher“ – „Du igelst dich hier richtig ein“ oder „Willst du nicht auch mal in einen Verein“.
Bei dem Satz „Schau mal etwas freundlicher“ habe ich nie so Recht verstanden, wie es gemeint war. Oft habe ich mich vor dem Spiegel gestellt und gefragt, wie schaut man denn freundlicher? Ich habe versucht, meine Mundwinkel so weit nach oben zu schieben, damit ein Lachen zum Vorschein kommt, aber statt dessen war da nur eine verzerrte Grimasse zu erkennen. Dieses „Schau mal freundlicher“ verfolgt mich eigentlich noch bis heute. Wie oft musste ich Fragen ertragen wie „Bist du sauer? Hast du schlechte Laune? Berückt dich irgendetwas?“ – Nein, ich schaue immer so. Oft habe ich heimlich vor dem Spiegel geübt, wie man freundlich ausschaut. Es gibt viele Kinderfotos von mir, auf denen schaue ich traurig, weine aber es gibt wirklich nur sehr wenige Fotos von mir, auf denen man ein kleines Lächeln drauf erkennen könnte. All diese Dinge tauchen nun immer häufiger in meinen Gedanken auf.
Als Teenager habe ich mir oft die Frage gestellt, wie es wäre, wenn man Tod ist. Ich müsste mich nicht mehr so durch das Leben quälen. Wie sehr habe ich mir Freunde gewünscht, mit denen man durch Dick und Dünn geht, denen man alles anvertraut, Freunde, die einfach mal vorbei kommen und fragen, ob wir etwas gemeinsam unternehmen wollen. Ich saß zu Hause….habe viel gelesen, meistens aber nur starr rumgesessen und alles um mich herum vergessen. Irgendwann habe ich angefangen zu malen, aber auch da zeigte ich nicht besonders viel Talent. Als ich anfing Tagebuch zu schreiben, traute ich mich nicht wirklich, meine Gedanken dort niederzuschreiben. Die Angst, meine Mutter könnte das Tagebuch finden und darin lesen, der Gedanke war für mich unerträglich. Also schrieb ich nur irrelevantes zeugs rein, aber nichts, was wirklich in ein Tagebuch gehört. Meine Gedanken speicherte ich einfach in meinem Kopf ab, das war für mich der sicherste Speicher, in dem niemand reinschauen konnte. Ich verbrachte sehr viel Zeit mit meiner Cousine, die mich auch fast überall mit hin nahm, aber als sie dann anfing, flügge zu werden und ihre ersten Scheunen- und Schulfeten auf dem Programm standen, da wollte ich nicht mehr mithalten. Also ging sie an den Wochenenden auf Feten und ich saß wieder allein zu Haus. Immer wieder erzählte sie mir von den tollen Feten und warum ich nicht auch mal mit wollte. Ich lies mich überreden und ging mit. Es war die Hölle. Diese vielen Menschen, diese laute Musik, alle redeten Durcheinander, man verstand sein eigenes Wort nicht. Wie konnte man sich in solch einer Atmosphäre wohl fühlen? Ich verstand es nicht, aber alle anderen lachten, erzählten und schienen sich prächtig zu amüsieren. Nun hatte ich das Problem, das ich nicht einfach wieder gehen konnte. Mein Onkel hatte uns zu dieser Dorffete gefahren und ich schlief dieses WE auch bei meiner Cousine, also musste ich ausharren, bis wir abgeholt wurden. Ich verbrachte viel Zeit draussen an der frischen Luft, so dass der Lärm nur noch im Hintergrund zu hören war und nicht durch meinen ganzen Körper vibrierte. Nie wieder hat mich jemand auf so einer Scheunenfete gesehen. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, immer wieder fragte ich mich, was finden alle so toll an extrem lauter Musik, diesem rumgetanze und dem gegenseitigen Anschreien, da eine normale Unterhaltung ja nicht möglich war. Warum empfinde ich es so als Qual, wenn sich doch alle anderen darüber freuten und neue Termine für die nächsten Feten klar machten? Das war absolut nicht meine Welt.
Auch der Montag in der Schule war immer die Hölle. Alle erzählten, was sie so an den Wochenenden gemacht haben? Warum mussten alle immer irgendetwas unternehmen? Ist das Wochenende nicht dafür da, das man sich von der stressigen Schulwoche erholen konnte? Keinen Druck verspürte? Frei von Verpflichtungen?
Auch wurde ich sehr wenig zu Geburtstagen eingeladen. Darüber machte ich mir zur damaligen Zeit aber auch keine Gedanken. Es war halt so, wollte ja sowieso nicht und so musste man sich auch keine Ausreden einfallen lassen, warum man keine Lust hatte. Ich habe meine Geburtstage nie gefeiert. Natürlich kamen an meinem Geburtstag immer die Verwandten zu Kaffee und Kuchen vorbei, aber das war mir eigentlich egal. Sie saßen ja nur da und erzählten von Gott und die Welt. Ich hatte keinerlei Verpflichtung an diesen Tagen, außer das ich mich für die Geschenke bedanken musste. Manchmal hab ich es nicht verstanden, wenn da Dinge drin waren, die ich mir gar nicht gewünscht habe. Aber ich habe ja gelernt, das man sich aus reiner Höflichkeit für jedes Geschenk bedankt und nie eine Bemerkung macht, wenn es einem nicht gefällt. Da ich keine Kindergeburtstage feierte, kamen auch keine Kinder und so haben mich halt auch andere Kinder nicht eingeladen. Diesen Standpunkt habe ich immer vertreten. Auf die Idee, das mich von meinen Schulkameraden vielleicht gar keiner als Freundin richtig angesehen hat und ich deshalb keine Einladungen bekam, da wäre ich wohl nie drauf gekommen. All diese Sachen kommen nun wieder in mir hoch, da ich es gerade bei meinem Sohn wieder erlebe. Allerdings hat er jetzt schon mehr Freunde in der Schule, als ich jemals hatte. Auch Einladungen bekommt er regelmäßig, aber nur zu den wenigsten geht er hin. Wir sind uns doch ziemlich ähnlich J
Ich habe ja vorhin schon geschrieben, dass ich sehr viel über den Tod nachgedacht habe. Unzählige Male habe ich überlegt, auf welche Art und Weise ich mein Leben beenden könnte. Aber ich war vielleicht zu mutig. Ich habe mich nie als Feige angesehen. Meine Sichtweise war jene, das ich glaubte, nur wer feige ist, der beendet sein Leben und die Mutigen stellen sich ihren Herausforderungen. Ich gehörte also zu den Mutigen. Ich hatte Mut zum Leben.

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