Sage nie: „Das kann ich nicht“.
Vieles kannst, Du willst die Pflicht.
Alles kannst, Du willst die Liebe.
Darum Dich im schwersten übe.
Schwerstes fordern Lieb und Pflicht,
drum sage nie: „Das kann ich nicht“.
Diesen
Spruch schrieb mir mein ältester Bruder am 12.10.1975 in mein Poesiealbum.
Wie oft
habe ich mir diesen Spruch in all den Jahren immer wieder durchgelesen und mich
gewundert, warum mein Bruder ausgerechnet diesen Spruch für mich gewählt hat.
Wie oft stand ich vor Aufgaben und glaubte diese nicht zu bewältigen und als
erstes fielen bei mir immer die Worte: „Das kann ich nicht“ und wie oft musste
ich dann an diesen Poesiespruch meines Bruders denken. Mein Bruder hat mich oft
in Situationen hineingeschubst, aus denen ich glaubte, allein nie wieder rauszukommen.
Aber irgendwie schaffte ich es immer wieder.
Wie oft in
letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob er mich besser kannte, als ich mich
selbst. Er hat mir immer mehr zugetraut, als ich glaubte in der Lage zu sein.
Als mein
Bruder (29) auf tragische Weise ums Leben kam, war ich 21 Jahre alt/jung. Zum
ersten Mal habe ich tiefe Traurigkeit empfunden, Emotionen, die ich vorher nie
kannte, nicht in dieser Art und Weise. Und dennoch war ich nicht in der Lage zu
weinen. Wie gern hätte ich meine Mutter getröstet oder meinen Vater, der an den
Tod meines Bruders fast selbst zerbrochen wäre. Ich konnte es nicht. Ich musste
den Tod meines Bruders ganz allein für mich verarbeiten. Da wir nachts um 02.00
Uhr telefonisch benachrichtigt wurden und ich dieses Telefonat entgegen
genommen habe, war ich lange Zeit danach nicht in der Lage, überhaupt wieder
ans Telefon zu gehen. Jedesmal, wenn das Telefon geklingelt hat, bin ich
zusammengeschreckt und habe mich zurückgezogen. Während mein Vater nach dem
ersten Schock dann die restliche engere Familie benachrichtigte und diese dann
irgendwann nach und nach alle bei uns zu Hause eintrafen, verließ ich die
Wohnung meiner Eltern. Ich war nicht in der Lage über meinen Bruder zu reden,
wollte nicht, das mir andere Trost spenden, ich wollte nur alleine sein. Ich
lief den ganzen Tag wie in Trance durch die Gegend. Als ich irgendwann wieder
einigermaßen Herr meiner Sinne war, musste ich feststellen, dass ich in einer
mir völlig fremden Umgebung war. Ich bin über vier Ortschaften weit gelaufen
ohne überhaupt zu merken, wo oder wie ich dort hingekommen bin. Als ich gegen
Abend wieder bei meinen Eltern eintraf, musste ich feststellen, dass immer noch
alle Familienangehörigen da saßen, weinten, trauerten und alte Geschichten über
meinen Bruder erzählten oder auch sich immer wieder nach dem Warum fragten. Ich
verstand es nicht, ich wollte nur meine Ruhe, die ich genau in diesem Moment
dort nicht fand. Vielleicht war es aber auch nur, weil ich nicht fähig war,
auch äußerlich zu trauern? Hatte ich einfach nur Angst, die anderen könnten
denken, ich bin nicht traurig, weil ich nicht weine, weil mir keine Tränen
runterlaufen, weil ich mir nicht ständig die Nase schnauben muss. Ich trauerte
doch, aber tief in meinem Herzen und tief in mir drin. Warum verstand mich in
diesem Moment niemand. Ich wollte nicht in den Arm genommen werden. Warum
meinten alle, sie müssten mich umarmen und drücken und mir tröstende Worte zu
sprechen. Dieser Zustand war für mich so unerträglich und dennoch musste ich da
wieder mal durch auf meine Art. Ich verstand nicht, warum niemand auf meine Art
trauerte, denn ich konnte nicht reden, ich hatte ein Gefühl, als würde mir
jemand die Kehle zudrücken. Wie konnten all die anderen reden, reden, reden.
Wieso trauerten sie so seltsam? Ich verstand es nicht. Erst Wochen später
konnte auch ich über meinen Bruder reden und ich stellte fest, das es eine Art
Befreiung ist, über einen Menschen zu reden, den man vermisst.
Auch nach
dem Tod meiner Eltern verlor ich keine Tränen, aber ich trauerte. Ich trauerte
wieder tief in mir drin. Nur diesmal musste ich reden. Aber nicht, um es zu
verarbeiten, nein, ich musste meinem damals 9jährigen Sohn mitteilen, das seine
über alles geliebte Oma nun für immer eingeschlafen ist. Mein Sohn weinte und
weinte und weinte und da musste ich plötzlich mit weinen. Aber ich weinte in
diesem Moment nicht aufgrund des Verlustes meiner Mutter, meiner über alles
geliebten Mutter, nein, ich weinte, weil mein Sohn traurig war und ich nicht
wirklich in der Lage, in zu trösten. Ich nahm ihn in den Arm und versuchte
tröstende Worte zu finden, aber es viel mir so schwer. Aber meinem Sohn
gegenüber konnte ich mich öffnen, für ihn fand ich wohl die passende Worte. Ich
redete mit ihm über alles, was mir gerade so in den Sinn kam, ohne lange über
meine Wortwahl nachzudenken, wie ich es sonst mache. War es das, warum alle
immer so viel reden mussten, war es ihre Art von Trauerbewältigung? So frei
geredet habe ich danach nie wieder. Reden, ohne nachzudenken, was als nächstes
für ein Satz bei mir raus kommt, nein, das geht nicht. Aber genau in diesem
Moment, als mein Sohn dies brauchte, konnte ich es.
Mir wird
immer gerne nachgesagt, ich sei ein Mensch, der ziemlich nah am Wasser gebaut
wurde, da mir bei vielen Gelegenheiten die Tränen nur so aus den Augen laufen.
Momente, wo man es vielleicht gar nicht erwartet, aber ich kann es nicht, wenn
ich einen Menschen verliere, der mir Nahe stand. Warum? Wie oft hat es mein
Mann schon geschafft, nur mit Worten, die nicht mal böse gemeint waren, das ich
einfach anfange zu weinen. Wie oft hat er mir schon die Frage gestellt, warum
ich weine? Ich weiß es nicht, irgendwann kommt es einfach so aus mir raus und
dann gibt es keinen Halt mehr.
Auch habe
ich sehr oft am Bett meines jüngsten Sohnes gesessen und einfach nur geweint,
während er friedlich schlief. Damals hatten wir noch keine Diagnose und ich
wusste nicht, was ich alles falsch gemacht habe. Warum er sich so agressiv uns
gegenüber verhält, warum wir so schwer an ihn rankommen. Wenn er dann abends in
seinem Bett lag und schlief und ich mich auf sein Bett setzte, einfach um ihn
zu beobachten, wie er so da lag, da liefen die Tränen.
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